Seit Jahren sammele ich mit großer Leidenschaft spannende und skurrile Anekdoten. Leider werden die meisten davon wohl nie wieder erzählt werden.
Neulich fand ich in einem meiner Notizbücher einen alten Zeitungsartikel. Der erzählte die Geschichte von Merv Grazinski aus Oklahoma City. Merv war mit seinem Wohnmobil auf einem Highway unterwegs, als er auf einmal sehr hungrig wurde. Er schaltete den Tempomat ein, begab sich in die Küche im hinteren Teil seines Fahrzeugs und schmierte ein Sandwich.
Sein rollendes Zuhause überschlug sich daraufhin mehrfach und landete im Straßengraben. Merv landete im Krankenhaus. Wieder bei Bewusstsein, machte er überraschenderweise nicht seine eigene Doofheit für den Unfall verantwortlich, sondern die Winnebago Motorhome Company. In seinem Wohnmobil hätte es einen Warnhinweis geben müssen, wonach man den Fahrersitz bei eingeschaltetem Tempomat nicht verlassen dürfe.
Bemerkenswert fand ich diese Geschichte vor allem deswegen, weil ein Gericht in den USA Merv einen Schadenersatz von – ich schwöre, ich denke mir das nicht aus – 1,75 Millionen Dollar zusprach. Zudem wurde die Firma Winnebago verpflichtet, den geforderten Warnhinweis anzubringen.
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Aber warum erzähle ich Ihnen das eigentlich? Ach ja, ich wollte etwas über vergessene Geschichten schreiben. Das erinnert mich an eine andere Story, die ich bei Wikipedia gelesen und in den Favoriten meines Internetbrowsers gespeichert habe.
Während des Sklavenaufstands im alten Rom gelang es dem Rebellenführer Spartakus einmal, eine Einheit der römischen Armee in die Flucht zu schlagen. Der römische Befehlshaber, Marcus Crassus, war über die Feigheit seiner Soldaten erbost und entschloss sich zu einer besonders harten Bestrafung.
Er ließ die Legionäre der geflüchteten Einheit in einer Reihe antreten. Jeder Zehnte musste drei Schritte nach vorne treten und wurde anschließend von seinen Kameraden mit Knüppeln und Fäusten zu Tode geprügelt.
Eine wirklich barbarische Bestrafung, finden Sie nicht? Dennoch ist sie bis heute in aller Munde. Immer wenn etwas „dezimiert“ wird, verwenden wir ein Wort, das seinen Ursprung im Totschlagen römischer Soldaten hat.
Jetzt fragen Sie sich bestimmt, was diese beiden Anekdoten miteinander zu tun haben. Ich will es Ihnen verraten: Nicht viel. Es sind einfach zwei Geschichten, die in meinem Arbeitszimmer herumfliegen. Geschichten, die ich aufgehoben habe, weil ich sie bemerkenswert fand, und die darüber hinaus nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun haben, worüber ich derzeit schreibe oder jemals geschrieben habe.
Ist das nicht schade? Es sind tolle Anekdoten und ich bringe sie partout nirgendwo unter. Stattdessen fristen sie ein sinnloses Dasein in Schubladen, Schuhkartons, in Notizbüchern, in Word-Dokumenten, in Linksammlungen, einfach überall.
Um die Chance zu erhöhen, dass wenigstens einige von ihnen noch einmal öffentlich vorgetragen werden, habe ich vor einiger Zeit damit begonnen, ein Register anzulegen. Darin werden meine Geschichten Stichworten zugeordnet, damit man sie bei Bedarf leichter finden kann.
Unter F findet man dort zum Beispiel die Geschichte von John Sedgwick, einem General der Unionstruppen im amerikanischen Bürgerkrieg. Eines klaren Frühlingsmorgens trat der stolze Befehlshaber hinter seiner Deckung hervor und ließ den Blick über die feindlichen Stellungen schweifen. Dabei sprach er seine berühmten letzten Worte: „Ich sage euch, auf die Entfernung treffen diese Idioten nicht mal einen Elefa…“.
Aber noch hat niemand einen Text über „fatale Fehleinschätzungen“ bestellt und so bleibt die Story im Archiv und wartet auf ihre Gelegenheit.
Noch schlechtere Chancen als Sedgwick hat vermutlich die Geschichte eines Brandenburger Schäferhundes, nennen wir ihn Kuki. Der ist vor einigen Jahren im Winter auf einen zugefrorenen See gelaufen und eingebrochen. Die Feuerwehr rückte an, um das Tier aus seiner misslichen Lage zu befreien. Doch als der Feuerwehrmann das Loch im Eis erreichte und Kuki aus dem Eiswasser ziehen wollte, hat der Köter seinem Retter erst einmal kräftig in die Hand gebissen.
Ich fand diese Geschichte im Lokalteil einer Zeitung und hätte ihr wohl keine große Beachtung geschenkt, wäre es nicht die Zeit der europäischen Finanz- und Schuldenkrise gewesen. Auf der Titelseite berichtete dasselbe Blatt über einen Staatsbesuch Angela Merkels in Griechenland, wo die Kanzlerin mit der dortigen Regierung über die Verhinderung des seinerzeit drohenden Staatsbankrotts diskutieren wollte.
Drinnen im Regierungspalast verhandelte Merkel über Milliardenkredite. Draußen vor dem Gebäude demonstrierten Hunderte aufgebrachte Griechen, die der Meinung waren, ihr Land werde übervorteilt und unterdrückt. Plakate zeigten Bilder von Merkel mit Hitlerbärtchen und anderen Nazi-Accessoires.
Als ich das las, ist mir fast der Kaffeebecher aus der Hand gefallen. Ich fragte mich, ob das kein Grund sei, die Zahlungen an Griechenland einfach ganz einzustellen. Doch dann musste ich an den armen Kuki denken, wie er ängstlich im kalten Wasser strampelte. Den hat der Feuerwehrmann natürlich trotz des Bisses aus dem See geholt. Was für eine tolle Analogie für einen Text über Merkel in Griechenland, dachte ich mit einem Seufzen.
Leider hat mich an dem Tag niemand dazu beauftragt und darum wanderte der Artikel ins Register (unter U für „undankbar“), wo Kuki seitdem im Verborgenen lebt zusammen mit Merv Grazinski, John Sedgwick, Marcus Crassus und unzähligen anderen.
Wenn ich über das Schicksal meiner Geschichten nachdenke, macht es mich schon ein wenig traurig. Viele dieser Geschichten werden vielleicht für immer vergessen. Dennoch lasse ich mich nicht davon abhalten, weiter mit großer Begeisterung in allen Winkeln meines Arbeitszimmers und meines Gehirns Storys zu horten.
Weitermachen trotz Schmerzen: Dazu fällt mir gleich noch eine Geschichte ein – und zwar die von Aron Lee Ralston. Der amerikanische Bergsteiger war vor einigen Jahren im Blue John Canyon in Utah zum Klettern unterwegs, als sich ein Felsbrocken löste und Arons Hand einklemmte.
Mehrere Tage lang versuchte er vergebens, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien. Schließlich kam er zu der Einsicht, dass seine einzige Chance zum Überleben darin bestand, sich selbst den Unterarm zu amputieren. Allerdings stand ihm für die lebensrettende Operation nur ein einziges Werkzeug zur Verfügung: ein rostiges Taschenmesser.
Damit konnte er zwar Haut und Fleisch durchtrennen, nicht jedoch die Knochen. Darum entschied Aron sich, Elle und Speiche feste gegen den Felsen zu drücken, bis die Knochen splitterten. Danach durchtrennte er Muskeln und Sehnen mit seinem Taschenmesser und entkam in die Freiheit.
Zurück in der Zivilisation, wurde Ralston gefragt, ob er jemals wieder alleine in der Wildnis klettern würde. Seine Antwort kam ohne Zögern: „Ich kann es kaum erwarten.“
Eine tolle Geschichte, finden Sie nicht? Allerdings fragt sich der eine oder die andere von Ihnen jetzt bestimmt, ob sich abgeschnittene Unterarme und vergessene Anekdoten tatsächlich vergleichen lassen – und ich gebe Ihnen Recht. Richtig gut passt die Geschichte hier nicht hin. Aber das muss sie auch nicht. Ich wollte sie einfach noch einmal erzählen.
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